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„Whole Brain Leadership“ ist das neue Zauberwort der Management Berater. Lässt man mal außen vor, warum man erst jetzt auf die Idee kommt, das gesamte Gehirn für die Management-Tätigkeit zu nutzen, ergeben sich durchaus interessante Aspekte. Märkte, Unternehmen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden immer komplexer, dynamischer und unsicherer – wer unter diesen Umständen noch erfolgreich managen will, muss sich auf diese veränderten Umstände einstellen und möglichst alle Kapazitäten nutzen, die zur Verfügung stehen.
We know more than we know how to say
Im Zuge dessen wird aktuell dazu aufgerufen neben den analytischen Fähigkeiten auch die emotionalen Kapazitäten von Mitarbeitern, Führungskräften und sozialen Systemen zu nutzen. „Human centered“ werden diese Ansätze, bei denen es oft um Einfühlungsvermögen, Sensibilität und Kreativität geht, dann auch gerne genannt. Dabei ist die Emotion weder das Gegenteil von Analytik noch sollte sich ein auf den Menschen zentrierter Management-Ansatz nur auf emotionale Faktoren beschränken. Allerdings wird durch diese Diskussion eher unabsichtlich ein entscheidender Aspekt thematisiert: nämlich die Erweiterung der kognitiv-rationalen Managementperspektive um eine ästhetische Komponente. Und Ästhetik meint hier nicht die Lehre der Schönheit, sondern die rationale Nutzung implizit-persönlichen Wissens zur effizienten Entscheidungsfindung. Die Berücksichtigung impliziten Wissens versetzt Manager erst in die Lage, ihre Argumentation auf dem gesamten verfügbaren Wissensspektrum aufzubauen, andere mit an dieser individuellen Wissensbasis teilhaben zulassen und nicht auf das kognitiv-verbalisierbare Wissen begrenzt zu bleiben.
In der kognitiv geprägten Managementwelt wird bisher hauptsächlich die Nutzung expliziter Wissensbestände postuliert: alles, was man berechnen, verbalisieren und schematisieren kann, ist ein zulässiges Argument. Implizites Wissen wird weitestgehend als irrational ausgegrenzt. Dabei werden finale Entscheidungen im Management zumeist mit einem hohen Anteil an implizitem Wissen bzw. persönlicher Überzeugung und Erfahrung getroffen. Spricht man mit Top-Managern hinter den Kulissen, so wird konstatiert, dass man gerade komplexe Letztentscheidungen oft „aus dem Bauch heraus“ trifft. Man baut auf das embedded knowledge und die persönliche Intuition. Der ehemalige Automotive Manager Lee Iaccoca hat diesen Zusammenhang präzise auf den Punkt gebracht: „Obviously you’re responsible for gathering as many relevant facts and projections as you possibly can. But at some point you’ve to take that leap of faith.”
Disruptiv Zukunft gestalten
Neben der Aufhebung der Empfindungslosigkeit des Logozentrismus bei der Wissensgenerierung und -nutzung geht es aber auch um die Beseitigung der Ausdruckslosigkeit bei der Wissensübermittlung. Man muss ästhetische Formen der Argumentation wie Collagen, Artefakte, freie Erfahrungsberichte oder Erlebnisräume im Managementkontext zulassen, um unter Ausschöpfung des gesamten zugänglichen Wissens und der kompletten menschlichen Intelligenz zu argumentieren: zum einen kann dann endlich kommuniziert werden, was man immer schon gewusst hat, ohne aber die richtigen Worte zu haben. Zum anderen durchschlägt die ästhetische Erkenntnis die Sicherungen unserer gewohnten Wahrnehmungs- und Denkweisen und eröffnet uns dadurch einen nicht reglementierten Blick auf die Zukunft.
Damit bietet die ästhetisch-expressive Argumentation eine Basis für die Entwicklung von Lösungen insbesondere im Rahmen von unsicheren Disruptions- und Innovationsprozessen. Sie berücksichtigt dabei die grundlegende Paradoxie der Disruption, dass man kognitiv begründete Entscheidungsempfehlungen nicht a priori abgeben kann, wenn sich die Entscheidungsprämissen als Bestandteil des zugänglichen Wissens erst im Rahmen des Entscheidungsprozesses selbst ergeben – wie sollen wir strategische Entscheidungen rational treffen, wenn die Zukunft so unsicher ist? Vor diese Herausforderung stellen uns z. B. aktuell die Disruptionen im Zuge der Digitalisierung. Es wird also deutlich, dass die ästhetische Rationalität nicht die subjektivistische Ergänzung einer ansonsten intersubjektiven kognitiven Vernunft ist. Sie vereinigt sich vielmehr mit der kognitiven Rationalität zu einer umfassenden Fähigkeit, antizipativ zu verstehen sowie vernünftig und zielgerichtet zu argumentieren.
Vernunft ist gefrorene Leidenschaft
Und diese umfassende Fähigkeit, implizites Wissen und ästhetische Argumente zu nutzen, benötigt man insbesondere für die als „agil“ bezeichneten Managementmethoden. Man kann voraussagen, dass die Manager, welche die Neigung besitzen, diese Erkenntnisquelle des impliziten Wissens für das Management zu leugnen, die nur logisch-kognitiv Kommunizierbares als rational gelten lassen wollen, dass diejenigen, um widerspruchslos zu bleiben, aufhören müssen, Entscheidungen in komplexen Prozessen zu treffen und sich vielmehr auf formal-logische Vorgänge beschränken sollten. Sie dürfen nicht die kreativen Prozesse der Digitalisierung und Unternehmenstransformation, sondern nur das formalisierte Modell linearer Aufgaben begutachten. Das hartnäckige Bestreiten und Zweifeln durch prinzipielle Einwände wie z. B. das sei alles bloß subjektiv, nicht zugänglich, unwissenschaftlich oder nicht theoriegeleitet, ist unfruchtbarer Nihilismus der Komplexitätsleugnung und wird den praktischen Herausforderungen des Management komplexer Systeme nicht mehr gerecht.