Das Ende des Bullshit Bingo

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Warum wir wieder ernsthaft und inhaltlich streiten müssen

Wir kennen es aus dem Arbeitsalltag – man sitzt in einem Meeting, bei einer Konferenz oder lauscht einem Vortrag und spielt Bullshit Bingo: sind alle Platzhalter, Euphemismen und Leerformeln abgehakt, springt man auf und ruft laut „Bingo“. Und dieses Spielchen kann man mittlerweile auch jenseits des professionellen Beratungskontext sowohl in der Politik als auch im privaten sozialen Rahmen prima betreiben. Allerdings können wir uns die wortreiche Standpunktlosigkeit heute schlicht nicht mehr leisten: die Normativität des Faktischen zwingt uns zur Renaissance von Vernunft und Wahrhaftigkeit.

Bullshit als verantwortungsloser Narzissmus

Das sind natürlich große Worte: Vernunft und Wahrhaftigkeit. Warum aber eine derart fundamentale Orientierung notwendig ist, zeigt die genaue Betrachtung von Bullshit und seinen Folgen. Henrik Müller verweist in seiner Kolumne im Manager Magazin zu Recht auf Harry Frankfurt, der in seinem Essay „On Bullshit“ die immer stärkere Verbreitung des Nichtwahren in der Öffentlichkeit beschreibt. Frankfurt unterscheidet dabei zwischen Bullshit und Lüge: der Lügner gibt zumindest zu, dass es einen Tatsachenbezug gibt, den er bewusst hintertreibt. Dem Bullshitter ist hingegen die Wahrheitsfindung egal, er versucht reuelos nur seinen eigenen Nutzen zu maximieren und hat dafür den Wahrheitsbezug schlicht aufgegeben.

Gerade dieses subjektive Nutzenmaximieren anhand des flexiblen Umgangs mit der Wahrheit macht den Bullshitter so gefährlich: Elon Musk haut zum Beispiel je nach eigenem Nutzenkalkül Unwahrheiten über Tesla oder Twitter raus, Boris Johnson hat die eigene Bevölkerung umfassend über die Folgen des Brexits falschinformiert und Donald Trump deutet gleich jede Gegebenheit in seine subjektive Perspektive um. Ihre Kommunikation ist ein rein instrumentelles Narrativ ohne Legitimationsanspruch außer dem Eigennutz.

Aber nicht nur in der großen weiten Weltwirtschaft oder -politik greift der Bullshit um sich. Auch im Banalen ist man vor seinen Auswüchsen nicht sicher. Betrachtet man z. B. auf professionellen Netzwerken wie LinkedIn viele reichweitenstarke Beiträge, so fällt auf, dass hier oft mit persönlichen Schicksalen kommunikativ gearbeitet wird: da werden hemmungslos der Suizid des eigenen Bruders oder die Demenzerkrankung des Vaters als humanistisches Feigenblatt der eigenen Reichweitensteigerung genutzt. Man gibt vor, natürlich immer garniert mit einem Foto der Betroffenen, diese tragischen Fälle nur dazu zu nutzen, um auf virulente Themen aufmerksam zu machen oder anderen in der gleichen Situation zu helfen. Mit der Maximierung der eigenen Click-Zahlen hat das natürlich nichts zu tun. Dieser Scheinheiligkeits-Bullshit ist unproduktiv, peinlich und beleidigt die Intelligenz des Auditoriums. Er hebt aber auch die Diskursfähigkeit auf: entweder man ist kollektiv betroffen oder man erstickt unter dem Shitstorm Backlash – über das vermeintlich bedeutende Thema wird nicht diskutiert.

Schleichendes Gift der diskursiven Zersetzung

Diese diskursive Zersetzung ist die Kerngefahr des Bullshits. Oft mit Clownerie gepaart, kommt er sogar unterhaltsam rüber – seine Folgen bleiben aber katastrophal. Auch wenn man über den ehrpusseligen Boris Johnson lachen kann, sind die Folgen des Brexits für England und Europa fatal. Auch wenn der Westen Wladimir Putin als anachronistischen Macho oft verlacht hat, ist der Überfall auf die Ukraine eine absolute Katastrophe. Und die Reaktion aus Teilen der deutschen Politik und Öffentlichkeit auf den Turbinen-Bullshit mit dem die russische Regierung jetzt die geringen Gaslieferungen rechtfertigt, zeigt genau die zersetzende Wirkung des Bullshits: die Tragfähigkeit von frei erfundenen Argumenten wird nicht mehr hinterfragt und wird der Bullshitter widerlegt, sagt er entweder „es war alles anders gemeint“ oder lügt einfach stur weiter. Beides führt zu einer aggressiven Lähmung des inter-nationalen und gesellschaftlichen Diskurses, der aber für die aktuellen Herausforderungen in unserer Welt existentiell ist.

Um den gordischen Knoten der aggressiven Diskurslähmung zu durchschlagen, ist eine neue Wahrhaftigkeit in die Debatte einzuführen. Robert Habeck spricht zurecht von der Stichhaltigkeit von Argumenten und nicht nur von ihren kommunikativen Wirkungen. Es geht bei Wahrhaftigkeit also darum, dass wir ehrlich und offen um das beste, sachlich fundierte Argument ringen und mit einer fairen Verständigungsorientierung in die Diskurse ein-steigen. Dass wir dabei unsere Überzeugung integer und mit Nachdruck vertreten, ist sogar notwendig, allerdings müssen wir uns auch verpflichtet fühlen, Objektivität, Tragfähigkeit und logische Konsistenz zumindest im Rahmen des popperschen Falsifikationsprinzips als Grundlage einer Argumentation anzuerkennen. Es geht also nicht darum, nicht agil oder flexibel zu sein, sondern darum, wahrhaftig für seine Argumente zu stehen, sie ernst zu meinen. Ob es dann bessere Argumente als die eigenen gibt, wird der Diskurs zeigen.

Beratung als Impulsgeber für neue Wahrhaftigkeit

Für die Beratung ist das Ende des Bullshit Bingos und die damit einhergehende neue Notwendigkeit nach Wahrhaftigkeit von existentieller Bedeutung. Einerseits weil der Beratungssektor mit seinen mannigfaltigen Ausprägungen schon immer anfällig für das Bullshit Bingo war und ist – meine denke nur an die unzähligen Business-Yoga Coaches, Balance-Berater oder Achtsamkeitstrainer. Andererseits weil die Beratung sui generis eine Verpflichtung zur vernunftsbezogenen und integren Argumentation hat. Und gerade weil die oben beispielhaft benannten, schmerzhaften Erfahrungen mit dem verantwortungslosen Narzissmus von Entscheidungsträgern aufzeigen, dass wir die aktuellen Herausforderungen nur gemeinsam und vernunftsbezogen meistern können, sollte von der Beratung ein klares Signal in diese Richtung ausgehen.

Darüber hinaus kann die Beratung im Kampf gegen den Bullshit zusätzlich einen wertvollen Beitrag leisten. Sie kann objektiv die Vielfalt der Argumente aufblättern und die Optionen in einer Diskussion aufzeigen – ohne beliebig zu sein oder die eigene Integrität zu verlieren. Denn die Berater sind ja just nicht dazu da, die eigene subjektive Meinung durchzusetzen, sondern die beste Lösung für die Ziele des zu Beratenden zu finden. Darauf aufbauend kann vermittelt werden, dass der Umgang mit der Vernunft eben keine folkloristische Naivität, sondern fundierte Entscheidungskompetenz ist. Aus diesem Berufsethos heraus können wir die Verankerung einer neuen Wahrhaftigkeit in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft mit vorantreiben. Gehen wir es an!