Das Ende des Bullshit Bingo

co-Veröffentlichung auf consulting.de


Warum wir wieder ernsthaft und inhaltlich streiten müssen

Wir kennen es aus dem Arbeitsalltag – man sitzt in einem Meeting, bei einer Konferenz oder lauscht einem Vortrag und spielt Bullshit Bingo: sind alle Platzhalter, Euphemismen und Leerformeln abgehakt, springt man auf und ruft laut „Bingo“. Und dieses Spielchen kann man mittlerweile auch jenseits des professionellen Beratungskontext sowohl in der Politik als auch im privaten sozialen Rahmen prima betreiben. Allerdings können wir uns die wortreiche Standpunktlosigkeit heute schlicht nicht mehr leisten: die Normativität des Faktischen zwingt uns zur Renaissance von Vernunft und Wahrhaftigkeit.

Bullshit als verantwortungsloser Narzissmus

Das sind natürlich große Worte: Vernunft und Wahrhaftigkeit. Warum aber eine derart fundamentale Orientierung notwendig ist, zeigt die genaue Betrachtung von Bullshit und seinen Folgen. Henrik Müller verweist in seiner Kolumne im Manager Magazin zu Recht auf Harry Frankfurt, der in seinem Essay „On Bullshit“ die immer stärkere Verbreitung des Nichtwahren in der Öffentlichkeit beschreibt. Frankfurt unterscheidet dabei zwischen Bullshit und Lüge: der Lügner gibt zumindest zu, dass es einen Tatsachenbezug gibt, den er bewusst hintertreibt. Dem Bullshitter ist hingegen die Wahrheitsfindung egal, er versucht reuelos nur seinen eigenen Nutzen zu maximieren und hat dafür den Wahrheitsbezug schlicht aufgegeben.

Gerade dieses subjektive Nutzenmaximieren anhand des flexiblen Umgangs mit der Wahrheit macht den Bullshitter so gefährlich: Elon Musk haut zum Beispiel je nach eigenem Nutzenkalkül Unwahrheiten über Tesla oder Twitter raus, Boris Johnson hat die eigene Bevölkerung umfassend über die Folgen des Brexits falschinformiert und Donald Trump deutet gleich jede Gegebenheit in seine subjektive Perspektive um. Ihre Kommunikation ist ein rein instrumentelles Narrativ ohne Legitimationsanspruch außer dem Eigennutz.

Aber nicht nur in der großen weiten Weltwirtschaft oder -politik greift der Bullshit um sich. Auch im Banalen ist man vor seinen Auswüchsen nicht sicher. Betrachtet man z. B. auf professionellen Netzwerken wie LinkedIn viele reichweitenstarke Beiträge, so fällt auf, dass hier oft mit persönlichen Schicksalen kommunikativ gearbeitet wird: da werden hemmungslos der Suizid des eigenen Bruders oder die Demenzerkrankung des Vaters als humanistisches Feigenblatt der eigenen Reichweitensteigerung genutzt. Man gibt vor, natürlich immer garniert mit einem Foto der Betroffenen, diese tragischen Fälle nur dazu zu nutzen, um auf virulente Themen aufmerksam zu machen oder anderen in der gleichen Situation zu helfen. Mit der Maximierung der eigenen Click-Zahlen hat das natürlich nichts zu tun. Dieser Scheinheiligkeits-Bullshit ist unproduktiv, peinlich und beleidigt die Intelligenz des Auditoriums. Er hebt aber auch die Diskursfähigkeit auf: entweder man ist kollektiv betroffen oder man erstickt unter dem Shitstorm Backlash – über das vermeintlich bedeutende Thema wird nicht diskutiert.

Schleichendes Gift der diskursiven Zersetzung

Diese diskursive Zersetzung ist die Kerngefahr des Bullshits. Oft mit Clownerie gepaart, kommt er sogar unterhaltsam rüber – seine Folgen bleiben aber katastrophal. Auch wenn man über den ehrpusseligen Boris Johnson lachen kann, sind die Folgen des Brexits für England und Europa fatal. Auch wenn der Westen Wladimir Putin als anachronistischen Macho oft verlacht hat, ist der Überfall auf die Ukraine eine absolute Katastrophe. Und die Reaktion aus Teilen der deutschen Politik und Öffentlichkeit auf den Turbinen-Bullshit mit dem die russische Regierung jetzt die geringen Gaslieferungen rechtfertigt, zeigt genau die zersetzende Wirkung des Bullshits: die Tragfähigkeit von frei erfundenen Argumenten wird nicht mehr hinterfragt und wird der Bullshitter widerlegt, sagt er entweder „es war alles anders gemeint“ oder lügt einfach stur weiter. Beides führt zu einer aggressiven Lähmung des inter-nationalen und gesellschaftlichen Diskurses, der aber für die aktuellen Herausforderungen in unserer Welt existentiell ist.

Um den gordischen Knoten der aggressiven Diskurslähmung zu durchschlagen, ist eine neue Wahrhaftigkeit in die Debatte einzuführen. Robert Habeck spricht zurecht von der Stichhaltigkeit von Argumenten und nicht nur von ihren kommunikativen Wirkungen. Es geht bei Wahrhaftigkeit also darum, dass wir ehrlich und offen um das beste, sachlich fundierte Argument ringen und mit einer fairen Verständigungsorientierung in die Diskurse ein-steigen. Dass wir dabei unsere Überzeugung integer und mit Nachdruck vertreten, ist sogar notwendig, allerdings müssen wir uns auch verpflichtet fühlen, Objektivität, Tragfähigkeit und logische Konsistenz zumindest im Rahmen des popperschen Falsifikationsprinzips als Grundlage einer Argumentation anzuerkennen. Es geht also nicht darum, nicht agil oder flexibel zu sein, sondern darum, wahrhaftig für seine Argumente zu stehen, sie ernst zu meinen. Ob es dann bessere Argumente als die eigenen gibt, wird der Diskurs zeigen.

Beratung als Impulsgeber für neue Wahrhaftigkeit

Für die Beratung ist das Ende des Bullshit Bingos und die damit einhergehende neue Notwendigkeit nach Wahrhaftigkeit von existentieller Bedeutung. Einerseits weil der Beratungssektor mit seinen mannigfaltigen Ausprägungen schon immer anfällig für das Bullshit Bingo war und ist – meine denke nur an die unzähligen Business-Yoga Coaches, Balance-Berater oder Achtsamkeitstrainer. Andererseits weil die Beratung sui generis eine Verpflichtung zur vernunftsbezogenen und integren Argumentation hat. Und gerade weil die oben beispielhaft benannten, schmerzhaften Erfahrungen mit dem verantwortungslosen Narzissmus von Entscheidungsträgern aufzeigen, dass wir die aktuellen Herausforderungen nur gemeinsam und vernunftsbezogen meistern können, sollte von der Beratung ein klares Signal in diese Richtung ausgehen.

Darüber hinaus kann die Beratung im Kampf gegen den Bullshit zusätzlich einen wertvollen Beitrag leisten. Sie kann objektiv die Vielfalt der Argumente aufblättern und die Optionen in einer Diskussion aufzeigen – ohne beliebig zu sein oder die eigene Integrität zu verlieren. Denn die Berater sind ja just nicht dazu da, die eigene subjektive Meinung durchzusetzen, sondern die beste Lösung für die Ziele des zu Beratenden zu finden. Darauf aufbauend kann vermittelt werden, dass der Umgang mit der Vernunft eben keine folkloristische Naivität, sondern fundierte Entscheidungskompetenz ist. Aus diesem Berufsethos heraus können wir die Verankerung einer neuen Wahrhaftigkeit in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft mit vorantreiben. Gehen wir es an!

Revolution im Maschinenraum des Managements

co-Veröffentlichung auf consulting.de

Technische Systeme übernehmen die Führung
ERP, HCM, CRM oder RPA… Data Mining, Block Chain oder Edge Cloud… die Liste der technischen Systeme, die schon längere Zeit Management-Prozesse und -ergebnisse prägen, ist lang. Neu ist aber, dass der Maschinenraum des Managements immer stärker die entscheidende Führung übernimmt und dadurch oft sein schwer zu steuerndes Eigenleben führt.

Keine Dystopie, aber bewusste Nutzung
Die Maschinen sind also nicht mehr (nur) dazu da, menschliche Entscheidungen zu fundieren, sie vorzubereiten oder zu exekutieren. Die Systeme entscheiden selbst, in zunehmendem Maße eigenständig und regeln oft schon autark Prozessoptimierungen, Personalrekrutierung oder die Gestaltung der Customer Journey. Das führt zu der Herausforderung, Maschinen mit sozialen, ökologischen und ökonomischen Entscheidungsmaßstäben zu versehen, die von diesen adaptiert und normativ eingesetzt werden.

Dazu muss man die Technologien aber erstmal verstehen. Wer gibt als Topmanager auch schon gerne zu, dass man die Funktion und den Nutzen einer Block Chain nicht verstanden hat oder dass die Möglichkeiten der Robotic Process Automation den eigenen Horizont übersteigen. Auch viele vermeintliche Experten faseln sich mehr oder weniger versiert durch das Bullshit Bingo der technologischen Managementassistenten. Dabei geht es nicht darum jede technologische Einzelheit von Grund auf zu verstehen oder dystopische Parallelwelten á la „Matrix“ zu fürchten. Vielmehr geht es um die gezielte und bewusste Nutzung der neuen Tech-Optionen, die oft selbstlernende Algorithmen zur Entscheidungsfindung besitzen und direkt miteinander interagieren.

Zukunft braucht Herkunft
Die gezielte Vorbereitung und Auswahl der passenden Technologie ist also eine entscheidende Voraussetzung für die erfolgreiche Anwendung derselben. Damit werden die Daten- und Handlungsmodelle, die eine Unternehmen entwickeln muss, bevor es ein technologisches System auswählt, immer bedeutender. So macht z. B. die Intelligenz und Systematik, die für die echtdatenbasierte Segmentierung des zu bearbeitenden Marktes investiert wird, die Auswahl und zielgerichtete Konfiguration eines CRM-Systems überhaupt erst möglich. Wer rein technische Parameter für die Bewertung und das Aufsetzen eines CRM-Fremdsystems in der Cloud verwendet und sich darauf verlässt, dass die inhaltliche Konfiguration im Nachgang durchgeführt werden kann, wird diese Fehleinschätzung zumeist teuer bezahlen. An dieser Grundherausforderung ändert auch die Wachablösung der On Premise Lösungen durch Cloud Anwendungen nichts.

Das klingt nach Binsenweisheit, allerdings sind die Systementscheidungen der letzten 10 Jahre genauso getroffen worden: hauptsächlich technisch und nicht inhaltlich dominiert. Und daran hat sich aktuell wenig geändert. Auch deshalb ist der Anwendungsfriedhof voll von Systemzombies, die zwar noch im Einsatz sind, aber das praktische Arbeiten eher verhindern als fördern. Will man dennoch die immensen Effizienzpotentiale der Management Automatisierung nutzen, so kommt man um das Tarieren von inhaltlicher und technischer Systemkonzeption nicht herum. Eine fundamentale Größe in diesem Kontext ist die dynamische Unsicherheit z. B. von Märkten oder großen Organisationen, welche die meisten Anwendungskontexte von Managementsystemen prägt. Um dieser Unsicherheit gerecht zu werden, müssen die Managementsysteme mit den Quellen der Unsicherheit flexibel vernetzt werden.

Intelligence by Business
Damit sind die individuellen Daten- und Handlungsmodelle der Unternehmen nicht nur für die Auswahl und Konfiguration, sondern auch für den erfolgreichen Betrieb der Systeme im Zeitverlauf existentiell. Sie dienen als elastisches Relais für die Versorgung der eigenständigen Entscheidungsfindung mit einem Strom aktueller Parameter und Normen, resultierend aus der operativen Geschäftstätigkeit. Es geht hierbei also nicht um die konzeptionelle Überfrachtung der Automationssteuerung, sondern vielmehr um die gezielte empirische Nutzung operativer Geschäftsprozesse für die Systementwicklung.

Wie bei einer Möbius-Schleife werden System- und Umweltentwicklung miteinander verknüpft und ihre Co-Evolution automatisiert. Für das Management eines Unternehmens wird diese Verschränkung aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie auf systematischen Modellen fußt. Sonst entwickeln sich die selbststeuernden Systeme zwar auch weiter, aber eben frei proliferierend. Die Nutzung des direkten Impulses aus den dynamischen Kontexten des Managements für das agile Automatisieren von Unternehmensprozessen ist dann nicht mehr sinnvoll, sondern eher irreführend und nur zufällig erfolgreich.

Direct 2 Consumer – der Kampf um den Kunden

Co-veröffentlicht mit consulting.de

Marken und Hersteller wenden sich immer häufiger direkt an Endkonsumenten und gehen nicht mehr den Weg über den Handel oder andere Distributoren. Der aktuelle Werbetracking-Streit zwischen Facebook und Apple geht ebenso um diesen direkten Zugang zum Kunden wie der Wettlauf um die Daten-, Kontakt- und Kommunikationshoheit im fahrbaren Device zwischen der traditionellen Automobilindustrie und Digital Pure Playern wie Google. Der Kampf um den direkten Draht zum Kunden ist voll entbrannt.

Brave new world – alle profitieren
Die Beherrschung der direkten Kundenverbindung lohnt sich: über die direkte Interaktion mit dem Endkunden wird First Party Data generiert und der Kundenkontakt und die damit verbundenen Interaktionen können direkt gesteuert werden. Daneben lernen auch die Kunden immer mehr, sich direkt an den Hersteller zu wenden und eine multifunktionale Interaktionsebene zu ihm aufzubauen. Der direkte Zugriff auf aktuelle Echt-Datenbestände der Kundeninteraktionen hat erstmal für beide Seiten Vorteile. Unternehmen wie Kunden erhalten Daten von hoher Validität, Granularität sowie Aktualität und können darauf aufbauend ihre Beziehung im Zeitverlauf spezifizieren, differenzieren und vereinfachen. Es entsteht kein Drittparteiengeschäft durch Marktforschung oder Data-Trading mehr und dadurch kein Ausnutzen von Datenströmen für andere Zwecke als die individuelle Kunden-Anbieter-Beziehung. Sollbruchstellen in der Übertragung und Verarbeitung der Daten werden dadurch vermieden und das Vertrauen im Rahmen der Datenübertragung und -nutzung steigt.

Durch neue technische Möglichkeiten wie Edge Cloud Systeme wird die Leistungserbringung direkt an den Konsum- und Erfassungsort bzw. in die Anwendungsebene des Kunden integriert. Durch die Verbindung von derartigen Systemen mit IoT entstehen liquide Netzwerke, die eine temporäre Unabhängigkeit vom zentralen Digitalkern bieten – ohne dass die Datenkonsistenz verloren geht oder die Latenzzeit zwischen Dateneingabe und Handlungsreaktion steigt. Daraus resultiert eine Leistungsunabhängigkeit am Point of Care, eine Entlastung des Datenverkehrs, die Senkung der Übertragungs- und Infrastrukturkosten sowie eine erhöhte Nutzbarkeit von persönlichen Daten durch lokale Speicherung.

Wir wissen zuerst, was Du willst
Die so entstehenden Kundeninteraktionen werden durch die Ereignisanamnese analysiert, bewertet und gefiltert. Aufgrund dieser Filterung werden Standardanlässe von individuellen Anlässen getrennt und die Bearbeitung zumindest der Standardanlässe kann schnell und reibungslos automatisiert werden. Damit integriert sich der Hersteller tief in die Lebenswelt des Kunden und baut weitreichende und breitgefächerte Interaktionen mit dem Kunden auf. Durch die Vernetzung, Automatisierung und Selbststeuerung wird der Kunde zu einem integralen Bestandteil der Wertschöpfung der Hersteller (Customer Cross Business Integration).

Für die Steuerung der Interaktionsaufnahme und -durchführung wird oft keine menschliche Entscheidung mehr benötigt. Vielmehr generieren technologische Interaktionssysteme ihre eigene Lernkurve und steuern sich auch im Zeitverlauf selbst. Damit sind auch nach außen hin personalisiert wirkende Angebote autonom steuerbar. Die Angebote sind nicht nur autark von menschlichen Entscheidungen, sondern auch von einer zentralen technologischen Steuerung. Autark handelnde Produkt- und Service-Systeme sind hoch anschlussfähig für Application Interfaces und können so ihr eigenes (lokales) Ökosystem aufbauen.

Kunden als selbstbewusste Währung
Durch diese weitreichende und zumindest zum Teil autarke Integration wird die Kundeninteraktion aber auch zu einer Investition für den Anbieter, die sich auszahlen muss. Z. B. ist der Kundenservice nicht mehr nur Kostenpunkt der Verkaufsförderung bzw. Kundenbindung, sondern Profit Center zur Initiierung und Integration produktiver Wertschöpfung. Durch die Option datengetrieben und automatisiert zu lernen, werden Erlös- und Ertragspotentiale entlang der Wertschöpfungskette sichtbar und durch die Verkettung und Kombination der Angebote sowie das umfassende Abgreifen von Interaktionsanlässen ergibt sich ein hohes Interaktionsvolumen. Aufgrund dessen können durch intelligente Automatisierung Interaktionen selektiert und gezielt monetarisiert werden. Damit wird das Interaktionsmanagement zum festen Bestandteil eines originären Audience Based Geschäftsmodells.

Audience Based heißt aber auch, dass der Kunde sich seiner Wertschöpfungsfunktion bewusst wird. Er verlangt für sein Engagement in Form von Content, Kommentaren, Bewertungen, Netzwerken etc. nach wertvoller Kompensation. Er versteht, dass seine Nutzerkonfiguration als Konsummuster und sein Interaktionsvolumen einen hohen Eigenwert haben und setzt diese als Manövriermasse bei der Positionierung in der Wertschöpfungskette ein. Diese Freiheit und Selbstbestimmung, sich in den Wertschöpfungsprozess als eigenständiger Faktor einzubringen oder sich dessen zu entziehen, muss gewährleistet und geschützt werden. Dann kann D2C auch für den Konsumenten eine spannende neue Perspektive werden.

Kundenfaszination in Krisenzeiten

Co-veröffentlicht mit consulting.de

Die aktuelle Krisenzeit forciert die Frage nach der erfolgsträchtigsten Art des Krisenmanagements. In dynamischen Märkten, in denen nicht sicher ist, ob der nächste Lockdown den ökonomischen Todesstoß bringt oder ob die Kaufzurückhaltung aufgrund der Pandemiekrise nicht länger anhält als erwartet, scheint die „Rette sich wer kann“-Strategie die Option der Stunde zu sein. Und diese aktionistischen Rettungsversuche werden oft auf dem Rücken der Kunden ausgetragen. Aber ist es nicht gerade in Krisenzeiten sinnvoll, seine Kunden zu faszinieren und damit an sich zu binden? Oder geht es darum, möglichst lange durchzuhalten, um dann als einer der letzten Verbliebenen die Oligopolistenrente einzustreichen?

Kundenbegeisterung als Rettungsanker
Auf den ersten Blick erscheint es paradox zu sein, inmitten der Pandemie und der dadurch ausgelösten Wirtschaftskrise auf die Kundenfaszination zu setzen. Wenn z. B. wie bei der Lufthansa, TUI oder Cinemaxx über 90 Prozent der Nachfrage abrupt wegbricht, geht es ja wohl kaum um die Aufrechterhaltung der Kundenbegeisterung, sondern vielmehr um das nackte wirtschaftliche Überleben. Das ist natürlich richtig – allerdings liegt hier nur vordergründig ein Widerspruch vor. Wirtschaftlicher Überlebenskampf und Kundenfaszination können sehr wohl zusammen einhergehen. In Krisenzeiten sichert Kundenfaszination sogar das wirtschaftliche Überleben besser ab, als hartes einseitiges Durchsetzen der eigenen unternehmerischen Interessen. Dazu muss man aber die Wirkungszusammenhänge der Kundenfaszination genau kennen. Kundenfaszination heißt, Kunden zu begeistern, d. h. das eigene Angebot und das unternehmerische Verhalten mit „Geist“ also Sinn zu füllen. Warum soll man das Produkt, die Dienstleistung kaufen bzw. die Marke weiter präferieren?

Diese Frage muss gerade in der Krise, in deren Rahmen der Kunde viele gewohnte Verhaltensweisen neu in Frage stellt, klar und deutlich beantwortet werden. Und es ist naiv zu meinen, die aktuelle Krise sei die letzte gewesen. Vielmehr müssen wir uns dauerhaft auf turbulente und ungewisse Zeiten einstellen und die Steigerung der Kundenloyalität ist eine wirksame Vorsorge, um auf Ungewissheit im Markt reagieren zu können. Um die Kundenloyalität durch Faszination zu steigern, kann man sich sogar direkt auf die Krise beziehen: denn es kann für die Kunden sehr wohl sinnvoll sein, z. B. etwas länger auf die Rückzahlung der stornierten Flüge zu warten, wenn damit die präferierte Fluglinie weiterhin bestehen bliebe. Um dieses Verständnis und die entsprechende Loyalität zu generieren, muss man dem Kunden aber auch ehrlich erklären, warum man seine Hilfe benötigt, ihn partnerschaftlich in den Rettungsprozess integrieren und ihn danach auch an den Vorteilen der Rettung teilhaben lassen. Analog zum Beschwerdemanagement wird durch die gemeinsam durchlittene Krise eine hohe emotionale Intensität mit negativer Richtung zu einer hohen Intensität mit positiver emotionaler Richtung. Die Kunden sind dann bereit, mit dem jeweiligen Anbieter auch durch schwere Zeiten zu gehen. Damit schafft man sich einen Handlungsspielraum, ohne den man zukünftige Krisen nicht überleben wird.

Orientierung durch Begeisterung
Aber nicht nur die kurzfristige Absicherung der Zahlungsfähigkeit durch Kundenfaszination kann in der Krise effektiver erreicht werden. Die hohe aktuelle Verunsicherung der Konsumenten führt, gepaart mit dem Gefühl der Obsoleszenz vieler Angebote, zu einer ständigen Sinnfrage: Warum nutze ich dieses Produkt oder diese Dienstleistung überhaupt? Gibt es nicht eine andere Alternative oder kann ich es ganz sein lassen? Viele Angebote werden als sinnentleert wahrgenommen und führen zu einem horror vacui in der Konsumwelt. Diese Orientierungssuche in der Navigationsgesellschaft ist der Grund dafür, dass viele in der Vergangenheit eingespielten Konsumzusammenhänge auch unabhängig von der aktuellen Pandemie aufgebrochen und neu justiert werden.

Die Erfüllung der Sehnsucht der Menschen nach, aus ihrer Sicht sinnvoller emotionaler und rationaler, Orientierung ist gerade in Umbruchphasen ein grundlegender Baustein unternehmerischen Erfolgs. Und genau hier setzt die Kundenfaszination im Gegensatz zur Zufriedenheit an. Denn die Faszination ist eine aktivierend positive Gefühlswelt, die von emotionalen Reibungsflächen lebt. Damit fordern faszinierende Angebote den Kunden aktiv dazu heraus, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und setzen so einen Kontrapunkt zu seelenlosem und unbewusstem Konsumieren. Diese konkrete Auseinandersetzung mit faszinierenden Angeboten fördert also die Orientierung der Kunden und schafft damit eine weitere emotionale sowie rationale Basis für die Gewinnung von Neukunden und für die Stärkung der Kundenbindung.

Menschen befähigen, begeistert sein zu können
Allerdings fordert die Gefühlswelt „Faszination“ den Anbieter auch zu aktivem Handeln heraus. Aus Marketingsicht liegt bei der Faszination das vordergründige Paradoxon vor, dass der Anbieter den Kunden befähigen muss, begeistert sein zu können. Das bedeutet, dass man den Kunden konkrete Angebotsinhalte und -kontexte liefern und klare Haltungen statt erratischer Posen zu Themen wie z. B. ökologischer Nachhaltigkeit oder sozialer bzw. globaler Verantwortung einnehmen muss. Beachtet man zusätzlich, dass verschiedene Zielgruppen von sehr unterschiedlichen Themen, Kontexten und Positionierungen fasziniert sind, wird deutlich, dass man seine Kunden genau kennen muss, um einen positiven Spannungsbogen aufzubauen. Damit bedeutet „befähigen, begeistert sein zu können“ auch, dass Unternehmen mit ihren Kunden aktiv interagieren und sie in ihre Wertschöpfungsprozesse integrieren müssen.

Das aktive Befeuern von Kundenfaszination stellt demnach genau dieselben Anforderungen an Unternehmen wie die aktuelle Krise: Klare Positionierung und Orientierung sowie integrative und sinngebende Interaktion mit Kunden. Dieser Zusammenhang hebelt auch das Kostenargument aus: muss man doch auch ohne den Effekt der Kundenfaszination zu nutzen diese Transformationsschritte durchführen, will man weiter erfolgreich im Markt bleiben. Durch die Nutzung der Aktivierungs- und Sinngebungsfunktion der Kundenfaszination können Unternehmen in der Krise also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – diese Chance sollte man sich nicht entgehen lassen.

Strategie in Zeiten von Corona

Co-veröffentlicht mit consulting.de

Alles auf Null, tabula rasa, Echtzeit-Disruption – die Corona Pandemie verändert das Selbstverständnis der Weltgemeinschaft rapide und setzt völlig neue Rahmenbedingungen. Allerdings steht nur fest, dass sich völlig neue Kontexte ergeben werden. Welche es sein werden und wie sie konkret aussehen, kann zurzeit niemand voraussagen. Die daraus folgende grundlegende Frage für die strategische Planung in Unternehmen lautet: in wie weit ist in diesen unsicheren Zeiten überhaupt eine sinnvolle Zukunftsplanung möglich?

Die Strategie ist tot, es lebe die Strategie.
Klar ist, dass sich die Strategieentwicklung fundamental verändern wird. Galt die Strategie bisher als möglichst genaue Vorausplanung der Zukunft, an deren Leitplanken man die Unternehmenspolitik ausrichten konnte, erhält in Zeiten von hoher Komplexität gepaart mit Dynamik und Unsicherheit die Strategie eine völlig neuartige Funktion. Nicht mehr das möglichst deterministische Erreichen von zukünftigen Zielen ist die strategische Grundfunktion. Vielmehr muss eine erfolgreiche Strategie ein Unternehmen auf die Zukunft in derart vorbereiten, dass es handlungs- und überlebensfähig bleibt. Die momentane Pandemiekrise zeigt deutlich, wie wenig Unternehmen auf diese wirtschaftliche Radikalkur vorbereitet sind. Das betrifft nicht nur diejenigen, die schon vor Corona in Schieflage gerieten, sondern auch Branchenprimi wie Adidas, die rapide innerhalb von Wochen in existentiell bedrohliche Situationen geraten.
Die Frage ist, kann man sich auf so etwas vorbereiten? Nur dann, wenn man Strategie als das systematische Aufstellen von plausiblen Hypothesen über verschiedenste zukünftige Entwicklungen versteht, zu denen man jeweils Handlungsprogramme entwirft. Strategie bedeutet also, auf die Ungewissheit in der Zukunft vorbereitet zu sein, nicht die Zukunft vorauszusagen. Um erfolgreich strategisch zu handeln, muss aber eine weitere Dimension erfüllt sein. Man sollte nicht nur wechselnde Situationen vor dem Hintergrund strategischer Hypothesen analysieren können, sondern auch schnell und gezielt handeln: Analysefähigkeit und -geschwindigkeit gekoppelt mit Reaktionsfähigkeit und -geschwindigkeit ist die neue Erfolgsformel der strategischen Planung.

Das „Hier und Jetzt“ als strategische Größe
Aus traditioneller Perspektive widerspricht diese situative Ausrichtung der prinzipiellen Natur einer klassischen Strategie. Wer die strategische Ausrichtung andauernd ändert und permanent situativ handelt, konterkariert eine langfristige Unternehmensausrichtung bzw. macht sie obsolet. Allerdings löst die neue Strategieperspektive diesen vermeintlichen Widerspruch hermeneutisch auf. Es geht nicht um fortwährenden Aktionismus oder um fehlende langfristige Ausrichtung, sondern um die kontinuierliche Überprüfung und Justierung der richtigen Ausrichtung. Es findet also ein Oszillieren zwischen liquider Flexibilität und temporärer Statik bzw. zwischen okkasioneller und prinzipieller Rationalität statt. Dabei ist entscheidend, dass es sich bei der okkasionellen Ausrichtung um eine unabhängige Perspektive handelt und nicht um eine exotische Abweichung von der prinzipiellen Perspektive. Neben einer prinzipiell geltenden Rationalität ist das Konkrete einer bestimmten Lage, Gegebenheit oder Situation auch als grundsätzliche Strategiebasis zu verstehen.
Man wählt zuerst ein, seiner konkreten Entscheidungssituation entsprechendes, Orientierungsmuster und bestimmt dementsprechend, welche Strategieperspektive man bezüglich der jeweiligen Entscheidungssituation verfolgt. Statt nach den „Bedingungen der Möglichkeit“ von Strategieempfehlungen ist zunächst nach den „Möglichkeiten ihrer Bedingungen“ zu fragen. Wo das Gelegentliche und Zufällige zur Normalität wird, entsteht eine große Überlegenheit der okkasionellen über die prinzipiellen Bedingungen. Dieses Oszillieren ist für eine Organisation sehr aufwendig, anspruchsvoll und anstrengend. Im Zuge dieses permanenten Wechsels aus Veränderung und Statik verliert man schnell den Überblick und die Unterstützung der eigenen Mitarbeiter. Die Kommunikation im Rahmen einer solchen Strategieentwicklung und -führung wird demnach völlig neu ausgestaltet werden müssen. Organisationen müssen durchlässiger werden, Strukturen lateral flexibilisiert werden und Mitarbeiter im Zweifel ständig die Denkrichtung ändern. Das Paradoxe dabei ist: datengetriebenes und systematisches Management sind auch aus okkasioneller Perspektive nötiger denn je, denn Fehler werden bei fehlender Analyse- und Aktionsfähigkeit bzw. -geschwindigkeit schneller und härter bestraft.

Mehr Erfolg durch Solidarität
Aber nicht nur das grundlegende Strategieverständnis und die resultierenden Anforderungen an die Strategieentwicklung und -umsetzung verändern sich. Auch und gerade das Umfeld, in dem sich Unternehmen bewegen, wird durch Corona umgekrempelt. Während uns die Diskussion über den aktuell noch wenig sichtbaren Klimawandel eher ein mentales Un-wohlsein beschert hat, zeigt uns die real erfahrbare Pandemie schlagartig die Grenzen bzw. Risiken der Globalisierung auf. Durch die internationale Arbeitsteilung wurden ganze Produktionssektoren regional konzentriert. Sie sind bei einem Zusammenbruch des globalen Logistiknetzwerks nicht mehr erreichbar. Werden in diesen Produktionsclustern lebenswichtige Produkte wie z. B. Antibiotika hergestellt, so kann es schnell zu existentiell bedrohlicher Unterversorgung kommen. Atemschutzmaske, Schutzkleidung und Beatmungsgeräte sind momentan extrem begehrt und niemand hätte das vor 12 Monaten vorausgesagt. Niemand? Stimmt nicht ganz, denn einige Experten warnen schon seit geraumer vor Pandemien. Der bekannteste unter ihnen ist Bill Gates, der schon 2015 auf einer TED Konferenz erschreckend genau beschrieb, was jetzt durch Corona ausgelöst wurde. Allerdings ging es da um die Auswirkungen von unspezifischen Pandemien. Dass wir heute überall auf der Welt Beatmungsgeräte benötigen, konnte auch nicht durch noch so prophetische Pandemiepläne vorausgesehen werden. Allerdings konnte vorausgesehen werden, dass wir medizinisches Personal brauchen werden, dass wir Schutzkleidung für diese Menschen benötigen und dass eine über alle nationalen Grenzen hinweg wirksame Aktionskoordination existentiell sein wird. Eine fundamentale Erkenntnis von Corona ist, dass ein einzelner und sei er noch so mächtig und reich, nicht alleine gegen eine Pandemie ankommt.
Die Ablösung des eher egozentrischen und auf wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet Mind Set der Globalisierung durch eine verständigungsorientierte und solidarische Perspektive, könnte die Strategieentwicklung noch stärker verändern, als die Dynamik und Unsicherheit der Märkte. Denn auch hier tritt eine weitere Perspektive sui generis in die strategische Planung ein. Verständigung funktioniert als handlungskoordinierender Mechanismus in der Weise, dass sich die Interaktionsteilnehmer über die beanspruchte Gültigkeit ihrer Argumente einigen, d.h. Geltungsansprüche, die sie gegenseitig erheben, untereinander anerkennen. Diese verständigungsorientierte Handlungskomponente ist nicht mit einer Erweiterung des zu schmalen Zielkatalogs um moralische Ziele gleichzusetzen. Anders als z.B. bei der Einfüh-rung einer altruistischen Zielsetzung im Rahmen einer Strategieentwicklung ist hier die generelle Erfolgsträchtigkeit des Handelns betroffen. Ob durch eine Strategie das Ziel der Gewinnmaximierung erreicht werden soll oder ob sie z. B. der Förderung der Regeneration der ökologischen Umwelt dient, bleibt offen. Es findet also keine Ausrichtung eines kognitiv-instrumentellen Verhaltens an einem moralisch-altruistischen Ziel statt, sondern die teleologische Maxime, d.h. die generelle Gültigkeit der strategischen Schlussregeln, ist betroffen: Je weniger eine Strategie in chaotischen Kontexten solidarisch ausgerichtet ist, desto weniger Erfolgschance wird sie haben. Diese produktive Kraft einer pluralistisch-umfassenden Strategieentwicklung gilt es gerade in Krisenzeiten zu nutzen.

Und jetzt mal mit dem ganzen Hirn… ästhetische Elemente im Management

Co-veröffentlicht mit consulting.de

„Whole Brain Leadership“ ist das neue Zauberwort der Management Berater. Lässt man mal außen vor, warum man erst jetzt auf die Idee kommt, das gesamte Gehirn für die Management-Tätigkeit zu nutzen, ergeben sich durchaus interessante Aspekte. Märkte, Unternehmen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden immer komplexer, dynamischer und unsicherer – wer unter diesen Umständen noch erfolgreich managen will, muss sich auf diese veränderten Umstände einstellen und möglichst alle Kapazitäten nutzen, die zur Verfügung stehen.

We know more than we know how to say
Im Zuge dessen wird aktuell dazu aufgerufen neben den analytischen Fähigkeiten auch die emotionalen Kapazitäten von Mitarbeitern, Führungskräften und sozialen Systemen zu nutzen. „Human centered“ werden diese Ansätze, bei denen es oft um Einfühlungsvermögen, Sensibilität und Kreativität geht, dann auch gerne genannt. Dabei ist die Emotion weder das Gegenteil von Analytik noch sollte sich ein auf den Menschen zentrierter Management-Ansatz nur auf emotionale Faktoren beschränken. Allerdings wird durch diese Diskussion eher unabsichtlich ein entscheidender Aspekt thematisiert: nämlich die Erweiterung der kognitiv-rationalen Managementperspektive um eine ästhetische Komponente. Und Ästhetik meint hier nicht die Lehre der Schönheit, sondern die rationale Nutzung implizit-persönlichen Wissens zur effizienten Entscheidungsfindung. Die Berücksichtigung impliziten Wissens versetzt Manager erst in die Lage, ihre Argumentation auf dem gesamten verfügbaren Wissensspektrum aufzubauen, andere mit an dieser individuellen Wissensbasis teilhaben zulassen und nicht auf das kognitiv-verbalisierbare Wissen begrenzt zu bleiben.
In der kognitiv geprägten Managementwelt wird bisher hauptsächlich die Nutzung expliziter Wissensbestände postuliert: alles, was man berechnen, verbalisieren und schematisieren kann, ist ein zulässiges Argument. Implizites Wissen wird weitestgehend als irrational ausgegrenzt. Dabei werden finale Entscheidungen im Management zumeist mit einem hohen Anteil an implizitem Wissen bzw. persönlicher Überzeugung und Erfahrung getroffen. Spricht man mit Top-Managern hinter den Kulissen, so wird konstatiert, dass man gerade komplexe Letztentscheidungen oft „aus dem Bauch heraus“ trifft. Man baut auf das embedded knowledge und die persönliche Intuition. Der ehemalige Automotive Manager Lee Iaccoca hat diesen Zusammenhang präzise auf den Punkt gebracht: „Obviously you’re responsible for gathering as many relevant facts and projections as you possibly can. But at some point you’ve to take that leap of faith.”
Disruptiv Zukunft gestalten
Neben der Aufhebung der Empfindungslosigkeit des Logozentrismus bei der Wissensgenerierung und -nutzung geht es aber auch um die Beseitigung der Ausdruckslosigkeit bei der Wissensübermittlung. Man muss ästhetische Formen der Argumentation wie Collagen, Artefakte, freie Erfahrungsberichte oder Erlebnisräume im Managementkontext zulassen, um unter Ausschöpfung des gesamten zugänglichen Wissens und der kompletten menschlichen Intelligenz zu argumentieren: zum einen kann dann endlich kommuniziert werden, was man immer schon gewusst hat, ohne aber die richtigen Worte zu haben. Zum anderen durchschlägt die ästhetische Erkenntnis die Sicherungen unserer gewohnten Wahrnehmungs- und Denkweisen und eröffnet uns dadurch einen nicht reglementierten Blick auf die Zukunft.
Damit bietet die ästhetisch-expressive Argumentation eine Basis für die Entwicklung von Lösungen insbesondere im Rahmen von unsicheren Disruptions- und Innovationsprozessen. Sie berücksichtigt dabei die grundlegende Paradoxie der Disruption, dass man kognitiv begründete Entscheidungsempfehlungen nicht a priori abgeben kann, wenn sich die Entscheidungsprämissen als Bestandteil des zugänglichen Wissens erst im Rahmen des Entscheidungsprozesses selbst ergeben – wie sollen wir strategische Entscheidungen rational treffen, wenn die Zukunft so unsicher ist? Vor diese Herausforderung stellen uns z. B. aktuell die Disruptionen im Zuge der Digitalisierung. Es wird also deutlich, dass die ästhetische Rationalität nicht die subjektivistische Ergänzung einer ansonsten intersubjektiven kognitiven Vernunft ist. Sie vereinigt sich vielmehr mit der kognitiven Rationalität zu einer umfassenden Fähigkeit, antizipativ zu verstehen sowie vernünftig und zielgerichtet zu argumentieren.

Vernunft ist gefrorene Leidenschaft
Und diese umfassende Fähigkeit, implizites Wissen und ästhetische Argumente zu nutzen, benötigt man insbesondere für die als „agil“ bezeichneten Managementmethoden. Man kann voraussagen, dass die Manager, welche die Neigung besitzen, diese Erkenntnisquelle des impliziten Wissens für das Management zu leugnen, die nur logisch-kognitiv Kommunizierbares als rational gelten lassen wollen, dass diejenigen, um widerspruchslos zu bleiben, aufhören müssen, Entscheidungen in komplexen Prozessen zu treffen und sich vielmehr auf formal-logische Vorgänge beschränken sollten. Sie dürfen nicht die kreativen Prozesse der Digitalisierung und Unternehmenstransformation, sondern nur das formalisierte Modell linearer Aufgaben begutachten. Das hartnäckige Bestreiten und Zweifeln durch prinzipielle Einwände wie z. B. das sei alles bloß subjektiv, nicht zugänglich, unwissenschaftlich oder nicht theoriegeleitet, ist unfruchtbarer Nihilismus der Komplexitätsleugnung und wird den praktischen Herausforderungen des Management komplexer Systeme nicht mehr gerecht.

Wirtschaft mit Würde – Wie anständig ist die Wirtschaft?

Co-veröffentlicht mit consulting.de

Verfolgt man die Rolle der Wirtschaft im Rahmen der Auseinandersetzung zu Themen wie Klimaveränderung, soziale Nachhaltigkeit oder wirtschaftliche Verantwortung, erhält man den Eindruck, Wirtschaft und Ethik seien verbissene Gegner. Dabei fußt die moderne Ökonomie auf dem Verständnis der klassischen Nationalökonomie, nach dem es in einer Volkswirtschaft immer um das Gemeinwohl, also um das Wohlergehen einer Gemeinschaft und nicht nur um das des Einzelnen geht. Dem Einzelnen soll es dabei nicht schlecht(er) ergehen, aber das Gemeinwohl steht im Vordergrund

Fake it till you make it
Diesem Postulat scheint die Wirtschaft aktuell nicht mehr verpflichtet zu sein. Dieselskandal, Opioid-Krise in den USA, Datenmissbrauch durch die Digitalkonzerne oder durch die Sportindustrie gefördertes Doping lassen an der ethischen Komponente in der Wirtschaft zweifeln. Allerdings wird dieser Aspekt oft gar nicht erörtert. Vielmehr wird wieder einmal diskutiert, ob die Ökonomie überhaupt eine ethische Dimension beinhaltet bzw. eine moralische Position beziehen soll. Wer bezahlt, hat Recht und für die Moral sind andere zuständig. Besonders deutlich wird dieser Aspekt, wenn sich Unternehmenslenker wie z. B. der Siemenschef Joe Kaeser zu Themen wie sozial-moralischer Verantwortung äußern. Bezieht man in diesen Fragen Position, wird einem schnell vorgehalten, dass man wirtschaftliche und moralische Aspekte nicht vermengen sollte. Diese Ebenen seien zu trennen, sonst habe das wirtschaftliche Konsequenzen, wie der aktuelle Konfliktfall zwischen der NBA und China zeigt.
Die Wirtschaft als fundamentaler Pfeiler einer Gesellschaft kann sich aber nicht in einem wertfreien Raum verorten. Sie muss sich allein aufgrund ihres enormen Einflusses auf den Alltag der Menschen am moralischen Diskurs beteiligen. Ein besonderer Aspekt des moralischen Diskurses im wirtschaftlichen Kontext ist dabei die Unterscheidung zwischen Legitimität und Legalität. Nicht alles, was illegal ist, wird auch als illegitim angesehen und es gilt als legitim die legale Grundlage solange zu umgehen, zu biegen und auf Lücken zu durchsuchen, bis man den besten Weg für sich gefunden hat. Der Trumpsche Anstandsverlust und die Lüge als Marketing-Tool sind salonfähig geworden und oft werden die Konsequenzen auf dem Rücken der Verbraucher ausgetragen. Betrügerisch manipulierte Automobile, tödliche Lebensmittel, kontaminierte Kleidung oder süchtig machende Schmerzmittel sind nur einige Beispiele für verantwortungslosen Umgang mit dem Wohlergehen der Käufer. Und es geht nicht darum, dass z. B. Schmerzmittel süchtig machen können, sondern wie die Anbieter dieser Schmerzmittel mit diesem Thema umgehen. Sich seiner Verantwortung bewusst zu sein und entsprechend verantwortungsvoll und integer zu handeln, ist die moralische Verpflichtung für Unternehmen.

Moralische Verantwortung von Unternehmen
Und diese Integrität wird immer entscheidender: je tiefer die Wirtschaft in die Lebensräume der Menschen eindringt, desto stärker werden sich moralische Fragen im Detail auch bei der Angebotsgestaltung stellen. Darf Alexa einen Privathaushalt abhören oder „Zurückflüstern“ und damit menschliche Vertrautheit suggerieren, die bei einem Roboter nicht vorhanden ist? Wen soll ein selbstfahrendes Fahrzeug im Fall eines Unfalls schützen und wen ggf. opfern? Darf eine KI-gesteuerte Software im HR-Sektor selbständig über neue Bewerber entscheiden? Diese Fragen der Leistungsgestaltung sind nicht rein leistungsbezogen zu beantworten, sondern verlangen eine moralische Wertung. Unternehmen werden in Zukunft moralische Werturteile also nicht nur im gesellschaftspolitischen Zusammenhang abgeben müssen, sondern auch im Rahmen der operativen Gestaltung ihres Leistungsangebots.
Es geht dabei allerdings nicht darum, dass man sich in der Wirtschaft global auf homogene moralische Standards einigt. Es ist mittlerweile sehr eindeutig, dass es sehr unterschiedliche Moralvorstellungen im mittleren Westen der USA, in China oder in Zentraleuropa gibt. Es geht darum, dass gerade die Verständigungsmechanismen verloren gehen, aufgrund derer moralische Diskurse geführt und Konflikte konstruktiv ausgetragen werden können. Die Frage wird also sein, ob wir uns in Zukunft unversöhnlich gegenüberstehen oder versuchen, Kompromisse zu finden, um Probleme wie Umweltschutz oder soziale Gerechtigkeit gemein-sam zu lösen. Dabei müssen wir, auch wenn es oft schwerfällt, andere Perspektiven zumindest zulassen. Die „Ich-Sie-Perspektive“ auf der normativen Ebene muss einer „Ich-Wir-Perspektive“ weichen, auch wenn wir den Gegenüber gar nicht mögen. Der ungarische Literat György Konrád konstatiert zurecht: „Auch mit denen, die uns nicht lieben, einen Dialog zu initiieren, ist ein Abenteuer, erwachsener Menschen würdig.“ Hierzu muss die Wirtschaft einen produktiven Beitrag leisten.

Sharing Economy – Epiphänomen oder Game Changer?

Co-veröffentlicht mit consulting.de

Die Sharing Economy ist semantisch ein alter Hut. Spätestens seit die Cebit (R.I.P.) die „Shareconomy“ im Jahr 2013 zu ihrem Leitthema erhoben hatte, war der kollaborative Konsum als Trendthema obsolet. Allerdings ist die wirtschaftliche Bedeutung der Sharing Economy heute viel größer als zu Trendthemazeiten. In einer Studie schätzt z. B. PwC, dass die weltweiten Sharing-Umsätze in den Bereichen Reisen, Car Sharing, Finanzen, Personalwesen sowie Musik und Video Streaming bis 2025 auf 303 Mrd. € steigen werden. Es stellt sich somit die Frage, ob mit dem Erwachsenwerden der Sharing Economy eine ökonomische Zeitenwende eingeläutet wird oder ob es sich um eine weitere wirtschaftliche Modeerscheinung handelt.

Nutzen statt Besitzen
Das Grundmotiv der Sharing Economy heißt „Nutzen statt Besitzen“. Auch von Privatpersonen wird immer mehr hinterfragt, ob man sein Kapital in Eigentum binden soll oder ob man Dinge nur dann nutzen will, wenn man sie braucht. Der Sharing Economy liegt demnach der klassische Effizienzgedanke zugrunde: die Maximierung des Verhältnisses von Zielerreichungsgrad zu Aufwand. Warum soll man z. B. als Privatperson heute noch einen PKW besitzen, wenn man ihn durchschnittlich nur gerade einmal 45 Minuten am Tag in Betrieb setzt?
Ca. 43 Millionen Autos stehen in Deutschland die meiste Zeit des Tages nutzlos herum. Summiert man Anschaffungskosten, Wertverlust, Kraftstoffkosten, Steuer, Versicherungen, Wartung und Reparaturen, so schlägt nach Berechnungen des ADAC ein SUV monatlich mit 1.580 € und ein Golf immerhin noch mit 550 € zu Buche. Da fragt sich der geneigte Nutzer schon, ob sich der ganze Aufwand lohnt. Aber der Wechsel vom Besitz zum situativen Nutzen vollzieht sich nicht nur im Automotivesektor: Wohnungen kann man über AirBnB teilen, Handtaschen bei rentobag mieten und Filme bei netflix streamen. Die Attitude des flexiblen Konsums greift immer weiter um sich und verändert komplette Branchen und Wirtschafts-zweige.

Weitere Motive des besitzlosen Konsums
Allerdings entspringt die Sharing Economy nicht nur dem Effizienzgedanken. Vielmehr dien-te sie schon in ihren Ursprüngen auch dem kollaborativem Konsum. Angefangen bei den Mitfahrgelegenheiten aus den 1970er Jahren über die Musiktauschbörse Napster bis hin zum Car Sharing stand das kollektive Nutzen von bestehenden Ressourcen im Vordergrund. Man wollte Dinge, die man selbst nur selektiv nutzte, dem Kollektiv frei zur Verfügung stellen. Dieser ursprüngliche Hippie-Ansatz der Sharing Economy findet heute seine Fortsetzung in der Diskussion um die Nachhaltigkeit unseres Konsums. Ein PKW, eine Handtasche, eine Stadtwohnung oder eine DVD, die man nur einmalig oder selten nutzt, ist Ressourcenverschwendung und ökologisch nicht sinnvoll.
Paradoxerweise bedient die Sharing Economy neben diesem Nachhaltigkeitsmotiv aber auch das gänzlich unterschiedliche Motiv des apokalyptischen Hedonismus: will man immer die neusten, spannendsten, angesagtesten Produkte und Services nutzen bzw. zur Schau stellen, dann weiß man die effiziente Vielfalt und Flexibilität des temporären Konsums zu schätzen. Das Prestige von permanentem Eigentum nimmt ab und der auf Instagram zur Schau gestellte temporäre Lifestyle gewinnt an Bedeutung – da können der nötige Privat-Jet, der passende Schmuck und sogar die Prominenten für das Insta-Shooting auch gemietet werden.

Lohnt sich das?
Die Sharing Economy bedient somit unterschiedliche und zum Teil paradoxe Motivlagen und ist gerade aus diesem Grund mittlerweile eine etablierte und weitreichende Anspruchshaltung der Konsumenten. Es ist nicht mehr fraglich, ob diese Anspruchshaltung von Bedeutung ist, sondern ob es sich für die Unternehmen wirtschaftlich lohnt, darauf einzugehen. Dabei ist zu beachten, dass der Einfluss der Sharing Economy auf bestehende Geschäftsmodelle weit über die gemeinsame Nutzung bzw. den Mietkauf hinausgeht: der immaterielle Software- und Serviceanteil am Angebot steigt gegenüber dem materiellen Produktanteil, wodurch die Kunde-Anbieter-Interaktion ein fundamentaler Bestandteil zukünftiger Geschäftsmodelle wird.
Diese Integration der Kunde-Anbieter-Interaktion und die Übernahme des Kapitalbindungsrisikos durch den Anbieter steigert die Kosten zum Teil immens und überfordert transaktionale Geschäftsmodelle. Die dünnen Margen beim Car Sharing, dessen Geschäftsmodell generell nur in Regionen mit mindestens 3.000 Einwohnern pro Quadratkilometer funktioniert, ist nur ein Beispiel für diese Problematik. Es wird demnach in Zukunft entscheidend sein, welche Geschäftsmodellinnovationen die wirtschaftliche Nutzung der Sharing Economy ermöglichen. An dieser Stelle wird die Sharing Economy zum echten Game Changer und es wird spannend sein, die Disruptionen in den entsprechenden Branchen zu gestalten.

Nachhaltigkeit als Wirtschaftsfaktor – Wahrhaftigkeit oder mentaler Ablasshandel?

Co-veröffentlicht mit consulting.de

Nicht erst seit den Friday for Future Demonstrationen wird heftig und kontrovers über die Nachhaltigkeit unserer Gesellschaft und insbesondere der Wirtschaft diskutiert. Lässt man den eher larmoyanten Vorwurf, die jungen Leute sollten doch bitte nicht während der Schulzeit demonstrieren, mal beiseite, zeigt sich, dass sich einiges verändert: Die Grünen haben Ambitionen auf das Kanzleramt, Bio wird zur gängigen Lebensform und selbst McDonalds bietet den Vegan-Burger an.

Paradoxe Nachhaltigkeitsschemata
Allerdings ist das paradoxe Verhaltensschema „Grün wählen“, „SUV fahren“ und „auf die Malediven in Urlaub fliegen“ weit verbreitet und die Friday for Future Generation muss sich fragen lassen, wie sie es mit dem CO2 Ausstoß der Server-Farmen für ihre Social Media Aktivitäten halten will. Es stellt sich die Frage, wie ernst wir unseren Nachhaltigkeitsanspruch nehmen und ob wir unser Verhalten tatsächlich ändern. Dieser Zusammenhang wird noch durch die aktuelle Verkürzung der Nachhaltigkeit auf den ökologischen Aspekt verschärft.
Dabei spielen soziale und ökonomische Nachhaltigkeit eine ebenso bedeutende Rolle. Vielmehr ist eine ökologische Nachhaltigkeit ohne soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit kaum zu realisieren. Ermahnt man z. B. als westliche Industrienation ein aufsteigendes Entwicklungsland zu mehr Umweltschutz, erntet man oft eine vehemente Replik in Richtung Gleichstellung der wirtschaftlichen Lebensverhältnisse. Oder anders gesagt, solange wir unseren Lebensstandard nicht anpassen, können wir von ökonomisch schlechter Gestellten nicht erwarten, dass sie unsere gemeinsame Umwelt besser schützen. Und die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen als Produktionsmittel wird weder die Nachhaltigkeit am Produktionsstandort noch in den abnehmenden Ländern fördern. Die Flüchtlingsströme Richtung Norden sind hier ein beredtes Beispiel.

Mentaler Ablasshandel
Entsprechend der Komplexität und des Aufwands für nachhaltiges Handeln, betreiben viele Wirtschaftsunternehmen green and white washing. Da werden Ökobilanzen geschönt, soziale Verantwortung an Ratingagenturen abgeschoben und Lohnzahlungen unter Mindestniveau durch die mehrstufige Auslagerung an Drittanbieter verschleiert. Und diese Nachhaltigkeitsklimmzüge werden dann als nachhaltiges Wirtschaften verkauft.
Der Konsument glaubt es gerne – Frei nach dem Motto: lie to me, I promise I believe. Es handelt sich hier um mentalen Ablasshandel, im Zuge dessen der Belogene die beruhigende Dosis Wahrheitsbeugung gerne in Kauf nimmt, da es sich z. B. als Käufer von Biofleisch oder als Besitzer eines Elektromobils ruhiger schlafen lässt. Allerdings zeigt sich gerade an der E-Mobilität die Problematik eines konsequent nachhaltigen Konsums. Die Luftverschmutzung wird nur vom Ort der Fahrzeugnutzung auf den Ort der Stromerzeugung (Braunkohle) verlagert, die Herstellung der Batterien verschlingt immense Ressourcen sowie Energie und die zukünftige Entsorgung von Millionen Batterien ist noch nicht mal im Ansatz geklärt. Ein wahrhaftig nachhaltiges Konsumverhalten umzusetzen, ist also äußerst aufwändig und kompliziert.

Apokalyptischer Hedonismus oder Verantwortung als Lebensstil
Der mentale Ablasshandel des apokalyptischen Hedonismus ist aber nur die eine Seite der Medaille. Wahrhaftige Übernahme von Verantwortung wird immer mehr zu einem authentischen Lebensstil. Es gelingt zwar nicht in allen Lebensbereichen immer sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltig zu handeln, aber es gelingt immer öfter. Im Gegensatz zu den apokalyptischen Hedonisten sind die Verfechter dieses Lebensstils bereit, für die Übernahme von Verantwortung einen höheren Preis zu zahlen oder Verzicht zu üben. Hier ergibt sich demnach ein Spannungsfeld der Strömungen zwischen mentalem Ablasshandel und verantwortungsbewusstem Lebensstil.
Unternehmen, die sich Nachhaltigkeit auf die Fahne schreiben, müssen sich entscheiden, wie sie sich in diesem Spannungsfeld positionieren wollen. Dabei bergen beide Wege ihr Risiko. Der Weg des white and green washing ohne echte Überzeugung birgt das Risiko der Enttarnung und der anschließenden Bestrafung durch den betrogenen Kunden – shitstorm, Kaufverweigerung und Markenabwertung inklusive. Der Weg der konsequenten Umsetzung nachhaltiger Unternehmenspolitik birgt das Risiko, dass der Kunde den erhöhten Aufwand durch diese Anstrengungen doch nicht monetär honoriert und z. B. keine höheren Preise zahlt. In diesem Fall rechnet sich wahrhaftige Nachhaltigkeit einfach nicht.
Es wird spannend, welche dieser Strömungen sich durchsetzt bzw. dominant sein wird und wie Unternehmen in diesem Spannungsfeld erfolgreich agieren werden.

Der Mythos von der „digitalen“ Transformation

Co-veröffentlicht mit consulting.de

Verfolgt man die Diskussionen über die Zukunft von Unternehmen oder auch staatlichen Institutionen, so kommt man an einem Schlagwort nicht vorbei: digitale Transformation. Alle wollen und müssen augenscheinlich sich selbst sowie ihre Organisationen in die digitale Welt transformieren und hetzten mehr oder weniger ahnungslos in den Transformationsprozess. In jedem Business Club wird wild über Industrie 4.0, AI oder IoT fabuliert – auch wenn die Protagonisten oft gar nicht wissen, was das alles eigentlich bedeutet. Das will man aber nicht zugeben, da man sonst wie ein grenzdebiler Tattergreis belächelt wird.

Die App-Falle
Am schönsten kann man dieses Phänomen beobachten, wenn man fragt, wer alles in den letzten Jahren irgendeine App gelauncht hat. Antwort: alle. Wenn man dann aber fragt, wer diese App noch nutzt bzw. für wen sich die App gelohnt hat, erntet man meist betretenes Schweigen. Man brauchte eben eine App, weil alle eine hatten. Welche Ziele man damit verfolgte, hat man entweder nie definiert oder schon wieder vergessen. An der App-Falle wird klar, dass die Digitalisierung kein Selbstzweck und kein Transformationsziel sui generis ist. Transformationsziele sind vielmehr kürzere Reaktionszeiten im Customer Journey Management, die Integration der Produktentwicklung in die Kunden-Lebenswelt, eine höhere organi-satorische Prozess-Effizienz oder die Implementierung neuer Geschäftsmodelle. Die Digitalisierung kann helfen diese Ziele zu erreichen, sie selbst bleibt ohne klare Ausrichtung aber nutzlos und ist schlimmstenfalls zusätzlich sehr teuer.

Digitalisierung als Treiber der Transformation
Allerdings spielt die Digitalisierung der privaten und beruflichen Lebenswelten natürlich eine große Rolle als Transformationstreiber. Die physische, analoge Realität ist längst nicht mehr von der digitalen, virtuellen Wirklichkeit zu trennen – weder in der Kundensphäre noch bei den Mitarbeitern. Durch das Zusammenspiel der unterschiedlichen Realitätselemente entstehen sowohl in der Konsum- als auch in der Arbeitswelt völlig neue Realitäten. Mobile virtuelle Welten werden a la Pokémon Go in die lokale Realität integriert und faktische Elemente wie Amazon Echo werden Teil der hybriden Austauschprozesse.
Dabei lassen sich die Eigenschaften der neuen Realität nicht auf die Summe der isolierten Eigenschaften der bestehenden Realitätselemente zurückführen: 1+1 ist hier nicht gleich 2, sondern gleich 3 oder 4 – es entsteht etwas völlig Neues. Durch diese Übersummativität bzw. Emergenz im Rahmen der Realitätsbildung sollte man eher von einer „Emergent Reality“ statt von einer „Augmented Reality“ sprechen.
Das sind aber nicht die einzigen Ursachen für die Transformationsnotwendigkeit. Genauso gewichtig sind steigender Kosten- und Wettbewerbsdruck, sinkende Margen, drohende Übernahmen oder instabile politische Rahmenbedingungen. Unternehmen müssen also auch jenseits der Digitalisierung schneller, flexibler und vernetzter werden, um in Zukunft erfolgreich sein zu können.

Digitalisierung als Mittel zur Transformation
Dabei kann die Digitalisierung aber enorm helfen. Neben ihrer Rolle als Transformationstreiber bietet die Digitalisierung entscheidende Instrumente, um Unternehmen erfolgreich zu transformieren. Die Virtualisierung und die damit einhergehende Automatisierung von organisatorischen Prozessen oder die Substitution der analogen Speicherung und Übermittlung von Daten durch digitale Alternativen bergen ein immenses Effizienzsteigerungs-Potential. Digitale Kanäle und soziale Netzwerke eröffnen Marketing und Vertrieb völlig neue Möglichkeiten, sich mit den Kunden zu vernetzten. Big Data und Artificial Intelligence schaffen die Basis für neue Angebotslogiken und Geschäftsmodelle – in dieser instrumentellen und inspirierenden Funktion liegt die treibende Kraft der Digitalisierung für die Transformation von Institutionen und Systemen.

Kein sinnloses Transformationsmanagement
Für den Erfolg des Transformationsmanagement ist es also entscheidend, dass die Ursachen für eine Transformation klar analysiert und die Ziele, die durch die Transformation erreicht werden sollen, eindeutig definiert werden. Hier sei nochmal betont: die Digitalisierung ist sowohl Transformationsursache und -treiber als auch ein Instrument, um zu transformieren – ein eigenständiges Transformationsziel ist sie nicht. Allerdings bietet die Digitalisierung einen immens großen und teils völlig neu bestückten Instrumental-Baukasten für die unternehmerische Transformation an. Diesen aufgrund einer klaren Analyse zielgerecht einzusetzen, wird in Zukunft erfolgsentscheidend sein.